Jonathan oder: Die Unterhose auf dem Kopf
 

Verfasst von:

Teilnehmer/innen der Einführung in die Literaturwissenschaft WS 02/03

 Jan Hendrik Beck
 
Text 1
Würde man Jonathans wenige Bekannte befragen, was dieser denn für ein Mensch sei, bekäme man wahrscheinlich vage Antworten wie „O, ein sehr ruhiger und stille Mensch.“ Oder „Zuverlässig – vielleicht ein wenig langweilig, der Mann.“ Und genauso wahrscheinlich wären solche Beschreibungen gehörige Untertreibungen: Jonathan war der vermutlich ruhigste und langweiligste Mensch der Welt, und damit war er sehr zufrieden.
Schon vor Jahren hatte er erkannt, dass ihm Aufregung, Abenteuer und alles Extreme ein Gräuel waren und hatte begonnen, seinen Lebenswandel konsequent (denn das war ein weiteres Charakteristikum) auf größtmögliche Stabilität und Berechenbarkeit auszulegen.
Seine nervenaufreibende Arbeitsstelle als Sachbearbeiter auf einer Nebenstelle der Frankfurter Post hatte er aufgegeben und stattdessen eine geringfügige Beschäftigung als Anlagenpfleger eines kleinen öffentlichen Gartens, den nie jemand besuchte, angenommen. Eine Familie oder Partnerin hatte Jonathan nicht, da emotionale Bindungen Stress bedeuten. Als er damals, vor Jahren, Anja per Brief seinen Entschluss, sie nie wieder sehen zu wollen, mitgeteilt hatte, hatte sie dies zwar etwas mitgenommen, aber tatsächlich stellte der frischgebackene Junggeselle bald fest, dass es sich alleine deutlich besser lebte und hatte nie wieder das Bedürfnis gehabt, sein Leben mit irgendjemandem zu teilen.
Jonathan lebte in einer winzigen Wohnung außerhalb der Stadt, hatte eine Tageszeitung und ein Schachmagazin abonniert, besaß zwar kein Haustier, dafür aber eine Zimmerpflanze, die trotz regelmäßigen Düngens und Gießens langsam einging und einen Fernseher in dem er sich –wenn es ihn doch einmal nach Aufregung gelüstete- einen Krimi ansah.
Er fuhr einen älteren aber zuverlässigen Wagen (Volvo-Diesel-Vierzylinder-Automatik) und besuchte einmal die Woche eine kleine Eckkneipe, wo er bei einem Schwätzchen mit dem ergrauenden Wirt ein kleines Export trank.
So verlebte Jonathan –wenn auch nicht glücklich, so doch in jedem Falle zufrieden- seine Tage. Er hatte sich mittlerweile so sehr an seinen perfekt durchorganisierten Tagesablauf gewöhnt, dass er auf kleinste Abweichungen von der täglichen Routine immer empfindlicher, ja schon fast verängstigt reagierte, wie zum Beispiel an jenem furchtbaren Morgen im letzten Sommer, an dem sein Volvo plötzlich aus unerfindlichen Gründen streikte.
(Er plante jedoch, dieses Problem beim nächsten Arztbesuch einmal zur Sprache zu bringen).
Trotzdem hätte sein Leben auf diese Weise ewig weitergehen können, wäre Jonathan im Frühling des Jahres 1994 nicht leider wahnsinnig geworden.

 
Text 2 Text 4
Text 3 Text 5
Text 3.1 Text 5.1
Text 3.2   Text 5.2
Text 3.21  
                  

                   

                

                

 

 

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