
Nathalie Gosseye-Widemann |
Text 2
In
diesem Frühling, genauer gesagt am 5. Mai 1994, lief Jonathans Morgen wie
immer ab. Er stand zur geregelten Zeit auf, frühstückte, und ging um 11 Uhr
zum Briefkasten. Dort war ein weißer Umschlag, mit einem schwarzen Streifen,
und ausländischer Briefmarke.
Erstaunt und zugleich ein wenig ängstlich starrte er den Brief an, indem er
langsam wieder ins Haus ging. Dort legte er ihn auf den Tisch und überlegte
ob er ihn gleich öffnen sollte. Seiner Gewohnheit nach las er erst die
Rechnungen und anschließend die Briefe seiner Mutter. Er wollte seinen
täglichen Plan nicht ändern und wusste so nicht richtig damit umzugehen.
Schließlich öffnete er den Umschlag sehr behutsam mit einem Messer, und
begann mit dem Lesen. Im Inhalt dieses offiziellen Briefes, wurde ihm
mitgeteilt, dass seine Exfreundin Anja gestorben sei und er, nach ihrem
Wunsch, beim Notar einberufen sei.
Er musste den Brief zwei Mal lesen, bevor er es richtig verstand. Es
handelte sich hier um seine letzte Freundin, die er vor fünf Jahren
verlassen hatte. Er konnte es kaum fassen! Was hatte er noch mit dieser
schon längst vergessenen Person zu tun? Wieso störte sie sein so ruhiges und
geregeltes Leben? Er verstand es nicht und wurde sehr nervös. Der Termin war
schon am nächsten Tag, so kurzfristig! Das ging gegen all seine
Lebensregeln. Mit Mühe überwand er seine Ängste und plante seinen
nächsten Tag. Er schrieb das Ganze ein wenig unwillig auf. Noch nie hatte er
von einem Tag auf den anderen etwas umgeplant!
Diese Nacht schlief er sehr schlecht. Eine Stunde vor dem Termin wartete er
schon vor dem Notariat und schaute dort bestimmt fünf Mal nach, ob der Name
stimmte und er nichts verwechselt hatte.
Als der Notar endlich die Tür öffnete und ihn hereinbat, zögerte er erst
und trat dann mit zitternden Beinen hinein und setzte sich.
Er erfuhr von diesem Herrn Schmitt, dass Anja einen vierährigen Sohn
hinterließ und er der Vater sei. Das war dem Jonathan zu viel und er fiel schlichtweg in Ohnmacht. Der Geruch eines
Glases Schnaps weckte ihn.
Der Notar war es, der ihm das Glas reichte, das er zuerst ablehnte. Er
trinke nie Alkohol, sagte er damals; doch zum Schluss war er nervlich so am
Ende, dass er es in einem Zug hinunter schluckte. Ihm wurde danach zwar warm,
aber er fühlte sich wahrhaftig ein wenig besser. Er konnte sich wieder
fassen und weigerte sich, das Kind (namens Moritz) als seines anzusehen.
Doch als er ein Bild von ihm sah, gab es kaum einen Zweifel mehr. Es war
sein Sohn, denn nur in seiner Familie erbten alle eine solche riesige Nase. Das
Alter des Kindes stimmte auch völlig damit überein.
Als der Notar merkte, dass der Mann nun der Situation bewusster war,
erklärte er ihm, dass der arme kleine Moritz keine Familie mehr habe und er
sich nun um ihn kümmern müsse!
Das war für ihn der Anfang vom Ende! Wenn er nur daran dachte, in welcher
Weise er sein Leben verändern werde müssen, fing er schon an in Panik zu
geraten. Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken, und er kam ins
schwitzen. Das war ihm unvorstellbar! Mit einem Kind gäbe es in seinem
Leben
immer Bewegung, denn diese bleiben nie ruhig. Ein Kind macht nichts nach
Plan, hat keine fixierten Uhrzeiten, isst andere Gerichte, erzählt viel,
rennt in der Gegend herum, braucht Spielsachen und Zuwendung. Man muss es morgens in die Schule bringen, zu Freunden, es pflegen wenn es krank ist,
und sich fortgehend Sorgen machen (ihm kann ja so vieles passieren).
Nein! Das alles konnte sich Jonathan auf keinen Fall zumuten, er würde w
ahnsinnig werden. Das alles konnte er nicht ertragen, er war nicht dafür
geschaffen!
Aber nun war es so und der Notar wollte nichts hören. Am Tag darauf werde
er ihm Moritz und seine Sachen vorbeibringen, so hätte Jonathan ja noch ein
paar Stunden Zeit sich vorzubereiten. |